„Fringsen“- wie ein Kardinal Mundraub erlaubte

Eisig kalt war es in Köln am Silvesterabend, dem letzten Tag des Jahres 1946. An diesem 31. Dezember hielt der Erzbischof und Kardinal Josef Frings in der Kirche St. Engelbert im Stadtteil Riehl seine Jahresendpredigt. Er sprach über die zehn Gebote; zum siebten Gebot, „Du sollst nicht stehlen“, sagte er: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“

In diesem Moment wurde ein neues Wort geboren, das seinen Namen unsterblich machte: „fringsen“, also stehlen aus blanker Not. Spätestens mit dieser Predigt wurde der Erzbischof, seit 1942 im Amt, aber mit Unterbrechungen vorher schon 23 Jahre als Seelsorger in Köln tätig, bei den Menschen seiner Diözese hochpopulär.
Frings hielt seine Predigt in einer Zeit härtester Entbehrung. Köln war durch Luftangriffe und Endkämpfe im März 1945 eine Trümmerwüste, zudem angefüllt mit Flüchtlingen aus dem Osten. Für alle, die hier noch lebten, ging es nur um die Deckung der Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Heizen. Seit Jahrzehnten hatte es keinen so kalten Winter mehr gegeben – zwischen Dezember 1946 und März 1947 lagen die Temperaturen an 64 Tagen morgens um acht Uhr unter dem Gefrierpunkt.

In dieser Notsituation „organisierten“ sich viele Kölner aus Güterwaggons und Lastwagen, die aus den Zechen des Ruhrgebiets kamen, Kohle zum Heizen. In der Bevölkerung hatte sich das Gerücht verbreitet, der Großteil der in Deutschland geförderten Kohle würde von den Alliierten ins Ausland abgezweigt – eine falsche Behauptung, die aber nur zu gern geglaubt wurde, gab sie doch eine gute Rechtfertigung für die Selbstbedienung ab.
Dann kam Frings’ Silvesterpredigt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Stadt, dass der Kohlenklau von höchster geistlicher Stelle vielleicht nicht gutgeheißen, doch aber erlaubt worden sei. Der rheinische Volksmund prägte für diese besondere Form von tätiger Selbsthilfe ein eigenes Wort, eben „fringsen“.

Unterschlagen wurde dagegen, was der Kardinal gleich nach den berühmten Sätzen seiner Predigt weiter gesagt hatte: „Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: Unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“
Umgehend bekam Frings Ärger mit der britischen Besatzungsbehörde. Deren Chef, Regional Commissioner William Asbury, ließ aus Düsseldorf wissen, die Predigt sei missverständlich. Sie könne von der Bevölkerung als Aufforderung verstanden werden, „das Recht in die eigenen Hände zu nehmen“. Deshalb verlangte er eine öffentliche Klarstellung.

Ein Mann für Rückzieher war der Erzbischof freilich nicht. Schon die Nazis hatten ihn nicht einschüchtern können – obwohl über seine feierliche Amtseinführung 1942 deutsche Zeitungen auf Weisungen des Propagandaministeriums nicht berichtet hatten und er von der Gestapo überwacht worden war.

„Ich habe nicht gedacht, dass dieser eine Satz so die bürgerliche Welt aufregen würde“, entgegnete Frings, um dann lakonisch noch einen draufzusetzen: „Was ich sagte, ist die Lehre der katholischen Moraltheologie. Ich selbst würde mir von den Waggons die Briketts holen, wenn ich kein Heizmaterial hätte.“
Diese Reaktion fand Asbury mindestens genauso ärgerlich wie die Predigt. Man vereinbarte einen Termin zur Aussprache: Freitag, 16. Januar 1947 um 15 Uhr im Düsseldorfer Stahlhof, Asburys Dienstsitz. Als Frings pünktlich ankam, war Asbury noch nicht da; ein Oberst richtete aus, dass er jeden Moment eintreffen müsse.

Nach einer knappen Viertelstunde des Wartens erhob sich der Kardinal und empfahl sich mit besten Grüßen an den Herrn Gouverneur. Seinen Chauffeur wies er an: „Jetzt schleunigst weg, es konnte gar nicht besser gehen!“ Zu einem weiteren Treffen wurde er nicht einbestellt.
Laut Forschungen von Josef van Elten, Mitarbeiter im Historisches Archiv des Erzbistums Köln, spricht viel dafür, dass Frings seine berühmten Sätze mit Bedacht sagte. Die vielfach korrigierte und bearbeitete handschriftliche Vorlage seiner Predigt zeige, das „er sehr mit den Formulierungen gerungen hat“. Und er war sich auch nicht sicher, ob er richtig gehandelt hatte, meint van Elten: „Die gravierenden Konsequenzen, der Streit mit den Behörden, seine durch das Wort ,fringsen’ angedeutete Popularität im Volk, haben Frings zeitlebens darüber nachdenken lassen, ob seine Wortwahl Silvester 1946 wohl die richtige gewesen sei.“

Der Kardinal blieb bis 1969 im Amt und starb, in seiner Stadt hoch geachtet, 1978 im Alter von 91 Jahren –an die Entbehrung der unmittelbaren Nachkriegszeit erinnerte da nichts mehr. Seine Botschaft sei abergleichwohl noch relevant, sagte der heutige Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki: „Den Kardinal hat die Not des Menschen umgetrieben. Und der Mensch steht immer im Mittelpunkt.“

Quelle: https://www.welt.de/ (Stand: 31.12.2016), "„Fringsen“ – Als ein Kardinal den Mundraub erlaubte"
Autor: Antonia Kleikamp